Mannheim liest ein Buch

Mannheim liest 2024

„Drei Kameradinnen“

von Shida Bazyar

„Wir nehmen das, was uns als Realität verkauft wird,
und übermalen damit unsere eigenen Biografien.“

Der Roman beginnt mit der Zeitungsmeldung von einem vorsätzlich gelegten »Jahrhundertbrand« in einer Mietskaserne, »der bereits jetzt als einer der verheerendsten in der Nachkriegs-zeit gilt« – ein Verbrechen, über das trotz seiner klaren rechtsterroristischen Signatur als islamistischer Anschlag berichtet wird. Statt an die Kontinuität rechter Gewalt zu erinnern, stürzen sich die Medien auf Kasihs beste Freundin Saya als mutmaßliche Täterin. Ihre Wut und ihr Widerstand gegen Diskriminierung werden als Beweise gegen sie gewendet. Und so beginnt Kasih zu erzählen:

„Es ist Freitagnacht, 2:28 Uhr, und ich versuche, vorne anzufangen. Das wird nicht klappen, denn vorne, das wäre in einer Zeit, als es uns noch nicht gab. […] Fangen wir also beim Dienstag an.“

Sie erzählt von heute und gestern, von Freundschaft und der Freiheit auf dem Dach, vom Aufwachsen in ‚der Siedlung‘ und der ersten Liebe, von schulischen und akademischen Erfolgen – und von Ausgrenzung und Diskriminierung, von Ungleichheit und Unterstellungen. Und Kasih erzählt unzuverlässig, weil diese Freundschaft nicht der Vorlage der unschuldigen Abenteuer der Hanni-und-Nanni-Geschichten folgen kann, so schön das auch wäre. Vielmehr gilt es, das eigene Leben gegen die vorgefertigten Schablonen zu verteidigen. Es gilt, gegen den Schmerz und im Kampf mit der Wut zumindest im Erzählen der Realität eine andere Wirklichkeit abzuringen:

„Es ist ja auch nicht so, als hätte die Welt uns eine Reihenfolge geliefert, die Sinn ergeben würde. Warum sollte ich mich dann an eine halten? Reihenfolgen sind was für Deutschlehrer, damit sie unsere Geschichten zügeln können.“

Erzählt in einer Nacht, holt der Roman mit den vorangegangenen vier Tagen die Geschichte einer Freundschaft ein – inmitten der Kontinuität rechter Gewalt. Inspiriert wurde Shida Bazyar zu ihrem Roman von Erich Maria Remarques Drei Kameraden (1936):

„Ich habe von Remarque gelernt, wie viel Wirkmacht es hat, wenn man über das Töten und das Sterben und die Ungerechtfertigkeit der Gewalt schreibt. Seit September 2022 die Revolution zu verfolgen, bedeutet, jeden Tag Fotos von Menschen zu sehen, die man ermordet hat. […] Die Lektüre von DREI KAMERADEN hat mir geholfen, herauszufinden, was ich wirklich mit meinem Schreiben möchte und die Motivation zu haben, dem nachzugehen.“

Shida Bazyar: Drei Kameradinnen

Erstausgabe: April 2021, ISBN: 978-3-462-05276-3
Taschenbuch: September 2022, ISBN: 978-3-462-00354-3
Englische Übersetzung: Sisters in Arms, Oktober 2023, ISBN: 978-1915590206

Hörspiel: WDR-Hörspiel, 24.03.2024, 54:05 Min.

Die Autorin

© Tabea Treichel

Shida Bazyars Eltern waren politische Aktivist*innen und flohen 1987 aus dem Iran. Sie wurde 1988 in Hermeskeil, in Rheinland-Pfalz geboren. Sie studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim und setzt sich in ihrem Schreiben mit Rassismus- und Sexismuserfahrungen auseinander, wie etwa in ihrem Text „Bastelstunde in Hildesheim oder Warum ich in Hildesheim lernte, dass der eine -ismus mich davon abhält über den anderen zu reden“, der 2017 im Merkur veröffentlicht wurde. Nach ihrem Studium zog sie nach Berlin, wo sie als Bildungsreferentin und Autorin arbeitete.


Shida Bazyar ist Gründungsmitglied des PEN Berlin. Drei Kameradinnen, nominiert für den Deutschen Buchpreis 2021, ist nach ihrem vielfach ausgezeichneten und in zahlreiche Sprachen übersetzten Debüt Nachts ist es leise in Teheran ihr zweiter Roman – ein „großer, aufwüh-lender, auch witziger Roman“ (NDR), ein „wuchtiger Roman über ein geteiltes Land“ (WDR).

 

In einem Interview mit der taz im Mai 2021 spricht Shida Bazyar über ihre eigene Position als Autorin im deutschsprachigen Literaturbetrieb und die Rezeption ihrer Texte. Dort geht sie auch auf den gesellschaftspolitischen Hintergrund ihres Romans Drei Kameradinnen ein, die Kontinuität rechten Terrors:

„Ich habe beim Schreiben gar nicht damit gerechnet, dass rechter Terror überhaupt Thema des Romans wird – das hat sich so eingeschlichen. Weil eine Figur wie Saya in unserer Gegenwart gar nicht darum herumkommt, sich mit rechtem Terror zu beschäftigen. Als ich angefangen habe zu schreiben, war das noch vor Halle, Hanau, dem Mord an Walter Lübcke und dem NSU 2.0. Trotzdem musste ich beim Fertigstellen des Manuskripts nur einzelne Keywords ergänzen. Rechter Terror hat einfach so eine Kontinuität, dass ich einem Text, den ich vor zwei Jahren geschrieben habe, kaum etwas hinzufügen musste.“