Mannheim liest ein Buch

Mannheim liest 2023

„Eine Formalie in Kiew“
von Dmitrij Kapitelman

„Zwei Staatsfamilienleben als ein Kloß im Hals. So weit sind wir gekommen, nur um uns jetzt zu verlieren.“

Die Kapitelmans sind in eine Krise geraten. Während sich Vera Kapitelman zusammen mit einer Horde von Katzen in der selbstgegründeten Enklave „Katzastan“ eingerichtet hat und Leonid Kapitelman ohnmächtig daneben steht, entscheidet sich ihr Sohn Dmitrij Kapitelman, nach 25 Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen. Mit der Warnung vor unvermutet einbrechenden Gullydeckeln in der Ukraine und dem Pochen der deutschen Bürokratie auf eine Beglaubigung seiner Geburtsurkunde beginnt Dmitrij Kapitelmans autobiographische bittersüße Familiengeschichte Eine Formalie in Kiew, die ihn in seine Geburtsstadt führt.

„Migration hört eigentlich nie auf, auch fünfundzwanzig Jahre später, wandere ich noch immer nach Deutschland ein – allein, ohne meine Eltern.“

Kapitelman nimmt uns mit auf seine Reise, in ein ,Damals-Kiew‘ und ,Heute-Kiew‘, in eine vergangene Kindheit und eine Gegenwart, in der die Gullydeckel aller Staatsskepsis zum Trotz halten – und auch sonst so einige Vorurteile ins Leere laufen. Die Bürokratie lässt sich überraschend kostengünstig abwickeln, aber dann trifft Kapitelmans Vater in Kiew ein, weil er in Deutschland keine Krankenversicherung mehr hat und dringend medizinische Hilfe benötigt. Und so wird aus der Formalie ein Abenteuer …

 

In der anekdotischen Erzählung verflechten sich die Erinnerungen an eine erlebte postsowjetische Vergangenheit mit den alltäglichen skurrilen Begebenheiten einer Gegenwart, die manchmal hervorragend, manchmal gar nicht zum vorurteilsbeladenen Label ,typisch ukrainisch‘ passen. Kapitelman faltet in seiner autobiographischen Erzählung ,Heimat‘ und ,Fremde‘ ineinander, erzählt von dem unbedingten Willen, zu gehen und der Sehnsucht, zurückzukehren; von den Verwerfungen zwischen den Generationen und der Versöhnung; von der Aufgabe, zwischen den Sprachen, Kulturen und Leben zu übersetzen. Und wir sind sein Publikum.

„Außer uns gesprochen: Otblagodari ist der gängige Euphemismus für Bestechung. Man entdankt sich, dankt sich quitt, dankt sich frei.“

Dmitrij Kapitelman: Eine Formalie in Kiew
Erstausgabe: Januar 2021, ISBN: 3446269371, 20,00 € (D), 176 S.
Taschenbuch: Januar 2023, ISBN: 978-3-423-14842-9, 12,00 € (D), 176 S.

Der Autor

Dmitrij Kapitelman wurde 1986 in Kiew geboren und migrierte mit acht Jahren mit seiner Familie als ,Kontingentflüchtling‘ nach Deutschland. Er studierte Politikwissenschaft und Soziologie an der Universität Leipzig und absolvierte die Deutsche Journalistenschule in München. „Eine Formalie in Kiew“ ist sein zweiter Roman, der 2021 mit dem Buchpreis Familienroman der Stiftung Ravenburger Verlag ausgezeichnet wurde. Ebenso wie sein Debüt „Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters“ (2016) ist auch dieser Text autobiografisch. Kapitelman war 2022 Mitgründer des PEN Berlin und arbeitet als freier Journalist in Berlin.

 

In einem Gespräch mit dem SWR im Mai 2022 blickt er nicht nur auf seine Kindheit und Jugend als jüdischer ,Kontingentflüchtling‘ in Leipzig zurück, sondern berichtet von seiner Situation als Autor und Schriftsteller in der Gegenwart, der Gegenwart des russischen Angriffskrieges in der Ukraine:

„Stellen Sie sich vor, es gibt eine Sprache, die Sie 85% Ihrer Lebenszeit eigentlich nur mit Ihrer Familie gesprochen haben. Die etwas ganz Warmes und Eigenes hat. Und plötzlich wird diese Sprache mit Mördern, Kriegsverbrechen und Massakern gleichgesetzt“.