Shida Bazyar

© Tabea Treichel

Shida Bazyars Eltern waren politische Aktivist*innen und flohen 1987 aus dem Iran. Sie wurde 1988 in Hermeskeil, in Rheinland-Pfalz geboren. Sie studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim und setzt sich in ihrem Schreiben mit Rassismus- und Sexismuserfahrungen auseinander, wie etwa in ihrem Text „Bastelstunde in Hildesheim oder Warum ich in Hildesheim lernte, dass der eine -ismus mich davon abhält über den anderen zu reden“, der 2017 im Merkur veröffentlicht wurde. Nach ihrem Studium zog sie nach Berlin, wo sie als Bildungsreferentin und Autorin arbeitete.

Shida Bazyar ist Gründungsmitglied des PEN Berlin. Drei Kameradinnen, nominiert für den Deutschen Buchpreis 2021, ist nach ihrem vielfach ausgezeichneten und in zahlreiche Sprachen übersetzten Debüt Nachts ist es leise in Teheran ihr zweiter Roman – ein „großer, aufwüh-lender, auch witziger Roman“ (NDR), ein „wuchtiger Roman über ein geteiltes Land“ (WDR).

In einem Interview mit der taz im Mai 2021 spricht Shida Bazyar über ihre eigene Position als Autorin im deutschsprachigen Literaturbetrieb und die Rezeption ihrer Texte. Dort geht sie auch auf den gesellschaftspolitischen Hintergrund ihres Romans Drei Kameradinnen ein, die Kontinuität rechten Terrors:

„Ich habe beim Schreiben gar nicht damit gerechnet, dass rechter Terror überhaupt Thema des Romans wird – das hat sich so eingeschlichen. Weil eine Figur wie Saya in unserer Gegenwart gar nicht darum herumkommt, sich mit rechtem Terror zu beschäftigen. Als ich angefangen habe zu schreiben, war das noch vor Halle, Hanau, dem Mord an Walter Lübcke und dem NSU 2.0. Trotzdem musste ich beim Fertigstellen des Manuskripts nur einzelne Keywords ergänzen. Rechter Terror hat einfach so eine Kontinuität, dass ich einem Text, den ich vor zwei Jahren geschrieben habe, kaum etwas hinzufügen musste.“

„Über Freiheit und Wut“

Podcast mit Autorin Shida Bazyar über „Drei Kameradinnen”

Am 08.11.2024 sprachen Ann-Christin Bäumker und Sophie Wolke mit Autorin Shida Bazyar über ihren Roman Drei Kameradinnen und fragten sie u.a. danach, wie das Schreiben helfen kann, Identitätskonflikte zu verarbeiten und neue Perspektiven auf die Welt zu gewinnen, und inwiefern die Biografie den eigenen Schreibprozess beeinflusst.

„Bleibt beieinander“

Interview mit Autorin Shida Bazyar über „Drei Kameradinnen”

In diesem Jahr liest Mannheim Shida Bazyars „Drei Kameradinnen”. Der Roman erschien im Frühjahr 2021 und war für den Deutschen Buchpreis nominiert. Er begleitet drei Freundinnen in ihrem Alltag zwischen Rassismus, Klassismus und Sexismus. Im Gespräch mit Jana Baier und Emma Jürgens, zwei Studentinnen der Universität Mannheim, spricht Shida Bazyar unter anderem über ihre Inspiration zu diesem Roman, über fehlende Aspekte in der Rezeption und über bewusste Leerstellen.

Wie findest du es, dass dein Roman für „Mannheim liest ein Buch” ausgewählt wurde?

Shida Bazyar: Ich finde das Konzept, dass eine Stadt ein Buch liest, einfach total toll, weil so viele verschiedene Akteure mitwirken. Dabei entstehen sehr viele kreative Ideen, wie man mit Literatur umgehen kann. Es ist eine Ehre und eine sehr schöne Art der Wertschätzung, wenn das eigene Buch dafür ausgewählt wird. Ich bin besonders gespannt auf Veranstaltungen, bei denen ich selbst gar nicht dabei bin. Die Eigenleben, die dort entstehen, wecken mein Interesse. Ich bin sehr neugierig, wie diese Veranstaltungen verlaufen werden.

Wen willst du mit deinem Buch erreichen? Hast du das Gefühl, diese Menschen erreicht zu haben?

Ich schreibe für keine spezifische Zielgruppe. In erster Linie schreibe ich für mich. Mit „Drei Kameradinnen” habe ich ein Buch geschrieben, das ich mir selbst immer gewünscht habe. In dem Roman sind größtenteils Erfahrungen beschrieben, die jeder kennt, ob aus der Innen- oder der Außenperspektive. Zum Beispiel die Reibungen in einer Stadt mit unterschiedlichen Milieus. Die meisten Rückmeldungen zu „Drei Kameradinnen” habe ich von Menschen bekommen, die Diskriminierungserfahrungen – vor allem mit Rassismus, aber auch Sexismus – aus ihrem eigenen Alltag kennen und sich deswegen in dem Buch wiedergefunden haben. Daran habe ich gemerkt, wie heilsam Literatur sein kann. Dazu muss sie keine Utopie vermitteln oder Hoffnung geben. Es ist schon heilsam, wenn die eigenen Erfahrungen irgendwo abgebildet werden.

Fehlt dir irgendetwas in der Rezeption des Romans?

Ich habe mich gewundert, warum Klassismus oft nicht erwähnt wird. Es wird viel über Rassismus und manchmal auch Sexismus geredet, aber sehr wenig über Klassismus. Zum Beispiel wird in der Rezeption gedacht: „Das sind ja Ausländer – die gehen nicht essen.” Statt sich zu überlegen, ob das mit der sozialen Herkunft in Verbindung steht, dass diese Menschen sich das vielleicht nicht leisten können. Und ich denke, das sagt auch viel über Rassismus aus.

 

Es gibt noch eine weitere Sache, die mich in der Rezeption auch oft irritiert hat. Der Roman handelt sehr stark davon, wie wenig Wissen es in der deutschen Mehrheitsgesellschaft zu rechtem Terror gibt. Er beinhaltet beispielsweise zwar Anlehnungen an den NSU, aber fiktionalisiert alle Fälle. Die Rezeption hat das größtenteils überhaupt nicht verstanden, was ich auf traurige Weise vielsagend finde. Häufig wurde gesagt, es ginge tatsächlich um den NSU-Prozess. Das zeigt, dass dieses eigentlich selbstverständliche Wissen darum, wer der NSU eigentlich war, was das für ein Prozess war und wer ermordet wurde, nach wie vor sehr gering ist. Es ist, als würde sich der Roman selbst bestätigen.

Was hat dich inspiriert, das Buch zu schreiben? Gab es einen bestimmten Moment der Entscheidung oder war es ein längerer Prozess?

Ehrlich gesagt war es ein Prozess. Aber es gab einen Moment, an dem ich dachte: So, jetzt ist das Fass übergelaufen. Das war, als ich das Buch „Drei Kameraden” von Erich Maria Remarque gelesen hatte. Daher auch der Titel meines Romans. Durch dieses Buch habe ich gemerkt, wie schön es ist und wie viel Kraft es einem selbst verleiht, wenn man davon liest, was sich Menschen gegenseitig geben können. Es hat mich aber geärgert, dass es sich gerade auch bei Remarque um eine sehr geschlechtsspezifische – nämlich männliche – Freundschaft handelt. Dadurch zeichnet sich oft ein Muster ab, welche Erzählungen über Freundschaft wir für normal halten. Deswegen wollte ich mit „Drei Kameradinnen” eine Geschichte über weibliche Freundschaft schreiben. Ich habe seit meiner Kindheit immer diese Art von Geschichten gelesen, in denen verschiedene komplexe Frauen- oder Mädchenfiguren zusammenfinden, ihren eigenen Schutzraum bauen, und ich habe mich in ihnen zuhause gefühlt. Diese Beispiele gibt es, aber sie sind zu wenige, und im kulturellen Gedächtnis sind sie meist als unwichtig oder kitschig herabgesetzt worden. Das Buch hatte sich schon seit vielen Jahre, bevor ich mit dem Schreiben begann, bei mir angebahnt. Aber ich habe Remarque gebraucht, um zu denken: Jetzt ist der Moment.

Hast du die Handlung des Romans vorher schon konzipiert oder war das ein laufender Prozess während des Schreibens?

Ich habe die Szene, in der die drei auf dem Dach sitzen und sich wiedersehen, direkt am Anfang geschrieben. Dass Kasih am Schreibtisch sitzt und von dort aus ihrer Perspektive die Vergangenheit aufrollt, war auch von Beginn an klar. Ebenso, dass Saya irgendetwas vorgeworfen wird. Allerdings wusste ich am Anfang noch nicht, was genau ihr vorgeworfen wird. Dieses Grundgerüst habe ich gebaut, damit es einen Grund gibt, den Figuren zu folgen. Diesen groben Rahmen habe ich nur gebraucht, damit ich darin die vielen kleinen Begegnungen beschreiben kann, bei denen es zu Reibungen kommt. Insofern bin ich zunächst den Figuren gefolgt und habe das geschrieben, worauf ich Lust hatte. Ich kam von Anekdote zu Anekdote. Erst ab ungefähr der Hälfte des Textes musste ich dann entscheiden, was die genaue Grundhandlung sein würde. Auch den Zeitungsartikel habe ich deshalb erst relativ spät eingefügt.

Wie hast du zu den Figuren gefunden?

Die waren einfach irgendwie da. Ich hatte ein Gefühl dafür, wie diese Stimmung auf dem Dach sein sollte. Beim Schreiben habe ich einfach ausprobiert, wer da sitzt und wie diese Figuren miteinander reden. Dadurch waren sie schon sehr konturenscharf. Ich habe mich also eigentlich gar nicht für diese Figuren entschieden, sie kamen und blieben.

Wie viel von dir selbst steckt in den Figuren?

Ich teile mit den Figuren die Erfahrungen von Sexismus und Rassismus und in Teilen auch Klassismus in meinem Alltag. Allerdings schreibe ich nicht genau darüber, was mir passiert ist. Stattdessen habe ich aus meinen Erfahrungen und denen meiner Freundinnen und Freunde Mechanismen festgestellt. Denn die Situationen ähneln sich immer ein Stück weit. Daraus habe ich dann Situationen für meine Figuren erschaffen. Ich fände es auch sehr langweilig, über mich zu schreiben. Aber ich merke natürlich trotzdem, dass die Figuren auf Anteilen aufgebaut sind, die ich von mir selbst kenne.

Die drei Hauptfiguren gehen sehr unterschiedlich mit rassistischen Erfahrungen um – warum ist das so?

Bei dieser Entscheidung habe ich viel darüber nachgedacht, was genau die Auseinandersetzungen der drei sind. Ich wollte, dass die Frauenfiguren diskutieren und nicht streiten. Die Frage war nur, worüber sie diskutieren. Und da war mir irgendwann klar: Es ist nicht Gegenstand der Diskussion, ob es Rassismus gibt oder nicht. Denn das ist ja das, was die Außenwelt bis heute diskutiert. Ich selbst hatte oft Diskussionen mit Freundinnen und Freunden darüber, ob man zufrieden ist mit dem gesellschaftlichen Fortschritt. Den gibt es natürlich: Dinge werden besser, das kann man deutlich sehen. Ich habe eine Freundin, die mir aber klargemacht hat, dass es immer noch viel zu wenig ist und wir uns damit nicht zufriedengeben können. So eine Art von Diskussion passte dann gut zu diesen drei Figuren.

Warum gibt es einige bewusste Leerstellen im Buch, beispielsweise die fehlende Benennung der Herkunft der Figuren?

Ich glaube, dass uns solche Informationen in manchen Texten eher einschränken, als dass sie uns einen Informationsgehalt liefern. Sagen wir, ich hätte Saya zur Kurdin gemacht – es wäre sehr leicht, das direkt identitätspolitisch zu konnotieren. Sie wäre dann die stereotype wütende, politische Kurdin. Ich glaube, dass Saya durch Zuschreibungen, mit denen man sie überhäufen würde, kleiner werden würde. Dadurch, dass ihre Herkunft nicht benannt ist, gibt es eine viel größere Offenheit. Auch weil diese Information für den Text tatsächlich egal ist. Seit Jahren gibt es die Diskussion, dass Menschen nicht gefragt werden wollen: „Woher kommst du?” Würde ich meinen Figuren jetzt andichten, dass sie da und da herkommen, dann hätte ich den Lesenden diese Antwort gegeben, nach der sie mit Sicherheit tatsächlich fragen würden. Kasih wirft das ihrem Publikum auch vor. Sie ist eine mächtige Erzählerin – aber eben nicht per se, sondern weil sie sich diese Macht holt. Und solange sie Wissen besitzt, das sie nicht mit uns teilt, ist ihre Macht noch größer.

Warum hast du diese Erzählstimme gewählt und warum gibt es eine direkte Ansprache an die LeserInnen?

Das ist sehr intuitiv. Oft gibt es als erstes so ein Gefühl, das ich umsetze. Der Stoff selbst sucht sich dann seine eigene Form und Struktur. In diesem Fall hätte es als Erzählstimme kein freundlich zugewandter Tonfall sein können, weil der Stoff Ecken und Kanten mitbringt. Dass eine direkte Ansprache an die LeserInnen stattfindet, hängt damit zusammen, dass es noch kein selbstverständliches Sprechen über Rassismus in Deutschland gibt. Weil wir immer noch bestimmte Diskussionen führen, die eigentlich längst geklärt sind, beispielsweise dass es nicht nur einzelne Erfahrungen, sondern strukturelle Probleme sind. Jeder Text, der davon handelt, ist automatisch ein Teil dieser Diskussion. Das heißt, ich kann gar keinen Text schreiben, ohne diesen Resonanzraum mitzudenken, in dem er sich befindet. Das hat dazu geführt, dass Kasih ihr Publikum adressiert. Vielleicht hatte ich auch schon von vorneherein ihre Haltung – sie steht ja im Grunde wie auf einer Bühne und durchbricht die vierte Wand, indem sie das Publikum anspricht –, weil das für mich direkt eine enorme Wucht hatte. Und Stärke. Und es sollte eine wuchtige und starke Erzählstimme sein, das war mir wichtig.

Welche Intention hattest du dabei, dass Kasih die LeserInnen teilweise in die Irre führt?

Kasih ist eine Figur, der man meist keinen Vertrauensvorschuss mitgibt. Oder anders gesagt: Wenn Menschen wie Kasih – also nicht-weiße Frauen, Hartz-IV-Empfängerinnen, aufgewachsen in sozial prekären Kontexten – reden, dann gibt es viele Instanzen, die ihnen nicht glauben, die ihnen widersprechen und die die Deutungshoheit haben. Menschen wie Kasih haben in der Regel nicht viel zu melden in der Gesellschaft, weil man ihnen nicht vertraut. Ich wollte nicht, dass meine Figur für ihre eigene Glaubwürdigkeit kämpfen muss. Deswegen fand ich es viel mächtiger, dass sie genau damit spielt und im Prinzip sagt: „Es gibt auch überhaupt keinen Grund, mir zu glauben. Ich lüge ja auch. Ich behaupte Dinge und nehme manche Aussagen sofort wieder zurück.” Sie muss niemandem etwas beweisen. Denn das wäre unmöglich: Wir können unsere Erfahrung nicht beweisen. Und das müssen wir auch nicht.

Welche Botschaft willst du deinen LeserInnen mit auf den Weg geben?

Es gibt einen Satz aus dem Roman, den ich beim Signieren auch immer gerne in das Buch schreibe: „Bleibt beieinander!” Nicht weil das, was die drei Figuren haben, ein perfekt laufendes Bündnis ist. Sondern weil der Roman von vielen Situationen handelt, in denen Bündnisse nicht zustande kommen. Wenn Kasih zum Beispiel im Jobcenter ist und von der Person, die dort arbeitet und eine gewisse Macht über sie hat, keine Zeichen menschlicher Regung oder Unterstützung bekommt, dann ist das gar nicht naturgegeben. Diese Person könnte auch als Frau oder als Person, die vermutlich weiß, wie sich eine lange Arbeitssuche anfühlt, mit ihr zusammenarbeiten. Das heißt, für mich ging es in allen Situationen mit Reibung vor allem immer auch darum: Warum findet hier gerade kein Bündnis statt, obwohl eines möglich wäre? Genau deswegen ist das Buch ein Plädoyer dafür, sich zusammenzutun, weil wir diese Bündnisse brauchen. Gerade jetzt gefühlt mehr denn je. Das ist die Botschaft von „Drei Kameradinnen”.

Dieses Interview entstand im Rahmen des Praxismoduls des Studiengangs Literatur, Medien und Kultur der Moderne der Universität Mannheim in dem Seminar „Interview, TikTok, Rezension. Kulturjournalismus rund um ‚Mannheim liest ein Buch‘“. Es wurde durchgeführt von den Master-Studentinnen Jana Baier und Emma Jürgens.